Die Frau, die das Meer niemals gesehen hat 

Du warst immer als erste wach und hast mich geweckt. Ich habe dich dann genervt aus meinem Zimmer geschickt, du hast gelacht und ich hörte dich in der Küche scheppern. Frühstück hast du nie vorbereitet, sondern immer nur Pistazien morgens gegessen. Wenn mein Vater schon wach war, dann habt ihr immer wild in der Küche diskutiert.

Du bist mit mir oft an den Friedhof spazieren gegangen, weil wir es beide liebten, die Grabsteine zu lesen und uns zu fragen, was für ein Leben die Toten wohl geführt hatten, als sie noch am Leben waren, wie sie ausgesehen haben, was wohl ihr Lieblingsessen gewesen ist und wer heute noch an sie denkt. An der Bushaltestelle hast du geflucht und bist auch schon mal schwarz gefahren. Du mochtest weder kochen, noch backen und manchmal, wenn du doch etwas gekocht hast, dann hast du mir nichts davon abgegeben weil das Essen immer für deinen Mann war.

Du warst für fast jeden Spaß zu haben, den ich mir ausgedacht habe. Deswegen warst du häufig meine erste Anlaufstelle, wenn ich wusste, dass Mama darauf wahrscheinlich keine Lust hatte oder es mir nicht erlauben würde. Ich sagte kichernd zu dir: „Du bist meine beste Freundin!“ Und machte dabei mit einem Grinsen voller Zahnlücken, eine Rückwärtsrolle in der roten Strumpfhose, die mir viel zu groß war.

Und diesen Satz würdest du in meiner Anwesenheit viele Jahre später ständig wiederholen, wenn wir uns wiedergesehen haben aber wir plötzlich nicht mehr viel zu reden hatten. „Weißt du noch, wie du gesagt hast, Elina: „Du bist meine beste Freundin!“
Ich würde später nur noch nicken und nicht mehr wissen, was ich sagen soll.

Du hast dich an Halloween hinter der Tür versteckt, weil ich für meine Grundschulfreundin eine „Geisterbahn“ im Keller vorbereitet habe. Ich hatte meine Freundin auf den Drehstuhl gesetzt und sie durch den Keller geschoben. Du hast deinen Einsatz nicht verpasst und fleißig gegen die Tür geklopft. Meine Freundin hatte sich damals gefragt, wie ich diesen Trick hinbekommen habe. Danach hast du mit mir zusammen herzlich gelacht, wie sonst keine Erwachsene, die ich jemals gekannt habe und die jemals so viel Freude an all dem Quatsch gehabt hätte, den ich so toll fand. Niemand war so wie du. Ich kannte wirklich niemanden, der auch nur ansatzweise so war wie du. Das war deine größte Stärke. Dir war nie etwas peinlich und irgendwie faszinierte mich das schon immer an dir. Du hast nur bis zur siebten Klasse die Schule besuchen können, danach musstest du schon arbeiten gehen. Das Meer hast du nie gesehen und machtest deine Welt gerne kleiner, als sie je gewesen ist. Und du hast mir etwas auf den Weg gegeben, das ich erst jetzt richtig realisiere: du und meine Familie haben mich gelehrt, bedingungslos zu lieben.

Du hast geliebt, so wie du konntest und das war für mich mehr, als ich je erwarten konnte.

Manchmal bedarf es keiner großen Worte, nur einer einzigartigen Verbindung, die unvergleichlich ist. Als ich dich dann so hilflos zusammengekauert im Krankenhaus sah, habe ich mir gewünscht, dich wieder fluchen zu hören. Ich habe mir gewünscht, dass du dich wieder aufregst und lachst und meinetwegen mich auf den Bildern nicht mehr erkennst. Aber du wiederholtest nur: „Ich falle, ich falle.“

Als ich dann deine magere Hand berührte, wusste ich es instinktiv. Das letzte Mal auf Erden. Früher gab es Momente, in denen man mir sagte, dass wir uns ähnlich sehen. Ich konnte das einfach nicht nachvollziehen. Jetzt erkenne ich dich in meinen eigenen Gesichtszügen wieder. Ein Teil von dir ist für immer in mir. Ein Teil von dir lebt immer noch weiter in meiner Erinnerung. Ich weiß, was du gerne gegessen hast und ich weiß wer an dich denkt. Solange es mich gibt.

Pictures by Sophie Sollmann
  1. Was für ein beeindruckender Text, ein Text, der einen gefangen nimmt und zum Mitfühlen anregt. Ein schönes, lustiges Leben, das schließlich sein Ende findet.
    Ich freue mich schon auf weitere Beiträge von dir.
    Hab ein wunderbares Wochenende und alles Liebe

  2. Ooo, Elina… Ich habe es gelesen und weinte dabei… Alles, was in deinem Text steht, ist wahr gewesen… Sehr genau und herzzerreißend… Ich habe mir sofort das damalige Haus vorgestellt und die vergangenen Tage, die nie mehr kommen… Obwohl es nicht immer schön gewesen ist, waren es trotzdem wunderbare Tage! Und es ist noch viel trauriger, weil ich weiß: Sie ist für immer weg und du bist kein kleines Mädchen mehr… Und wirst es nie mehr sein…

  3. Ich kämpfe wirklich gerade mit den Tränen, in deinem Text steckt so viel Liebe und so viel Gefühl, das ist ein ganz besonderes Talent. Solange wir jemandem in unserem Herzen tragen und Erinnerungen immer wieder aufleben lassen, sind diese Menschen genau das, in uns am Leben. Eine ganz liebe Umarmung zu dir und vielen Dank, dass du diese Worte mit uns geteilt hast. Alles alles Liebe, x S.Mirli
    https://www.mirlime.com

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